Anzeiger für Harlingerland 25.02.2004 (S. 4), Jeversches Wochenblatt 25.02.2004 (S. 4)
Gemeinden wollen wieder das Sagen haben
Erstmals ein kommunaler Erfahrungsaustausch in Sachen Windkraft / 850 Millionen Euro Schadensersatz
Die Städte und Gemeinden in Niedersachsen möchten sich nicht länger von den Windkraftkraftbetreibern unter Druck setzen lassen. Sie wenden sich an die Bundesregierung.
VON HANS-PETER HEIKENS
WITTMUND / OST-FRIESLAND - Grundsätzlich haben die Städte und Gemeinden, wenn es um "ihre" Gebiete geht, eine Planungshoheit. Wo was gebaut wird, entscheiden die gewählten Volksvertreter - die Räte. Im sogenannten Flächennutzungsplan legen sie diese Dinge fest.
Das "grundsätzlich" gilt in einer Sache aber seit Monaten nicht mehr. Nämlich dann, wenn es um die Windkraft geht. Immer öfter werden die Kommunen von Windkraftbetreibern unter Druck gesetzt. Die suchen in den Flächennutzungsplänen nach einem "Haar in der Suppe" und ziehen vor Gericht. Oder sie drohen mit immensen Schadensersatzforderungen, sollten die Räte nicht weitere Windkraftanlagen zulassen. Beispiele gibt es entlang der Küste genug, ob nun in Friesland, in Wittmund, in Aurich oder dem Emsland. Überall beschäftigen sich die Räte mit den "Drohungen" potentieller Windanlagen-Bauer.
Doch nicht nur in Ost-Friesland wird viel Wind um die Windkraft gemacht. Landesweit kämpfen die Kommunen gegen die Gesetzeslücke, die die Windindustrie für sich entdeckt hat, wie der Geschäftsführer des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes, Dr. Wulf Haack, gestern Mittag nach einem großen kommunalen Treffen in der Wittmunder Stadthalle verdeutlichte. Auf Einladung des Städte- und Gemeindebundes und der Stadt Wittmund waren mehr als 130 Kommunalvertreter in die Harlestadt zu einem Erfahrungsaustausch zum Thema "Aktuelle Entwicklungen im Bereich Windkraft" zusammengekommen (siehe auch Seite 1).
Während eines Pressegespräches wies Dr. Haack darauf hin, dass landesweit Schadensersatzforderungen von Windanlagen-Betreibern in Höhe von 850 Millionen Euro im Raum stünden. "Dadurch bauen die Betreiber ein regelrechtes Druckszenario auf ", so der Landesgeschäftsführer. "Entgegen den Planungen der frei gewählten Räte in den Städten und Gemeinden sollen so potentielle Standorte für Windkraftanlagen, 'freigeschossen' werden, die den planerischen Vorstellungen der Gemeinden nicht entsprechen", ergänzte Wittmunds Bürgermeister Karl-Heinz Krüger. Und Katharina Augath, Referentin für Verfassungs-, Verwaltungs- und Prozessrecht, zeichnete dieses Szenario noch weiter: "Das, was dort derzeit in Sachen Windkraft läuft, ist auch auf andere Bereiche übertragbar, beispielsweise auf Massentierhaltungsanlagen.
"Die Frage ist nur, wie lukrativ die Angelegenheit ist." Und da mit der Windkraft momentan noch viel Geld zu verdienen sei, konzentriere sich die Verfahrensweise auf diesen Bereich.
Um der Lage wieder Herr zu werden und den Räten wieder das Sagen zu geben, fordert der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund vom Gesetzgeber die schnelle Einführung einer Veränderungssperre. Mit diesem Mittel hätten die Kommunen die Möglichkeit, ihren Flächennutzungsplan nachzubessern, sobald dieser juristisch "unter Beschuss" genommen würde - und zwar über einen Zeitraum von drei Jahren. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, haben viele Städte und Gemeinden eine Petition unterzeichnet, die in den nächsten Tagen den niedersächsischen Bundestagsabgeordneten überreicht werden soll. Und auch mit Ministerpräsident Christian Wulff stehen die Kommunen im Gespräch.
Der Städte- und Gemeindebund hofft, dass die Veränderungssperre bis zum Sommer im Bundesbaugesetzbuch eingearbeitet wird. "Durch diese Nachbesserung wird für die Zukunft die Hoheit der Gemeinden wieder hergestellt, wobei wir Wert darauf legen, dass die neuen Vorschriften natürlich rückwirkend auch für alle laufenden Fälle gelten sollen", hob Dr. Wulf Haack hervor, der zugleich darauf verwies, dass man nicht die Windkraft verhindern wolle und dass die Anlagen-Bauer, die derzeit die Flächennutzungspläne "auseinander nehmen" würden, im Rahmen bestehender Gesetze handeln.

Ostfriesen-Zeitung 25.02.2004 (S. 10)
"Unter Druck der Windlobby"
PLANUNG - Gemeinden wehren sich in Wittmund gegen Schadensersatzforderungen
130 Kommunen waren bei der Veranstaltung vertreten. Sie befürchten, dass sie künftig nicht mehr bestimmen können, wo Windenergieanlagen gebaut werden.
VON HEINER SCHRÖDER
WITTMUND - Die niedersächsischen Städte und Gemeinden sehen sich "unter dem Druck der Windlobby". Mit Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe versuchten Windkraftbetreiber, gegen den Widerstand der Kommunen neue Standorte für den Bau von Windenergieanlagen durchzusetzen. Das teilte der Städte- und Gemeindebund gestern in Wittmund mit.
Zum Erfahrungsaustausch waren Städte und Gemeinden aus Niedersachsen eingeladen. Eigentlich wollte der Wittmunder Bürgermeister und Gastgeber Karl-Heinz Krüger die Vertreter der Kommunen im Rathaussaal empfangen. Weil das Interesse aber so groß war, zog man in die Stadthalle um. 130 Vertreter von Städten und Gemeinden kamen schließlich.
Sie haben nämlich Sorgen. Nach Angaben des Städte- und Gemeindebunds gibt es derzeit Schadensersatzforderungen der Windenergieplaner in Höhe von 850 Millionen Euro gegen Kommunen. In Ostfriesland sind beispielsweise Wittmund, Holtriem, Dornum, Großheide und die Krummhörn betroffen.
Diesen Gemeinden liegen Anträge für den Bau von neuen Windenergieanlagen vor. Zwar ist in den Flächennutzungsplänen geregelt, wo Windenergie auf dem Gemeinde- oder Stadtgebiet ihren Platz hat. Aber diese Flächennutzungspläne sind angreifbar: "Jeder zweite Plan wird vor Gericht gekippt", sagt Krüger. Meist gehe es dabei um Kleinigkeiten, die eine Gemeinde nicht bis ins letzte Detail klären könne.
Wenn das geschieht, muss die Gemeinde den Anträgen von Windenergieplanern stattgeben. Egal, ob es sich um einen Windpark oder um über die ganze Gemeinde verteilte Einzelanlagen handelt. "Die frei gewählten Bürger in den Räten können nicht mehr entscheiden", meint Dr. Wulf Haack, Geschäftsführer des niedersächsischen Städte- und Gemeindebunds.
Die Interessenvertretung der Kommunen fordert daher eine Änderung im Baugesetzbuch: Durch eine so genannte Veränderungssperre für Flächennutzungspläne soll erreicht werden, dass nach ungünstigen Gerichtsurteilen noch Zeit für Nachbesserungen bleibt.
Geschieht das nicht, befürchten die Städte und Gemeinden in ganz Niedersachsen und vor allem in Ostfriesland, dass es wieder einen "Wildwuchs von Windenergieanlagen" (Krüger) gibt. Die meisten haben daher eine Petition an die niedersächsischen Bundestagsabgeordneten unterzeichnet.
Vor der Sommerpause soll eine Entscheidung fallen. Beraten wird der Städte- und Gemeindebund vom Verwaltungsrechtsexperten Prof. Bernhard Stüer aus Münster, der die Bezirksregierung bereits bei der Emsvertiefung und beim Bau des Emssperrwerks beraten hatte.
(Bildunterschrift: Ein Windpark aus 8 Anlagen) Die Krummhörn gehört zu den ostfriesischen Gemeinden mit einer großen Zahl von Windparks. Dennoch wollen Windenergieplaner weitere Anlagen dort aufstellen. Die Gemeinden befürchten, dass sie die Kontrolle über die Entwicklung verlieren.

PLANUNG VON WINDENERGIE
WINDENERGIE ist seit 1996 privilegiert. Das heißt, dass den Anträgen für Windenergieanlagen in der Regel stattgegeben werden muß.

FLÄCHENNUTZUNGSPLÄNE sind das Mittel der Städte und Gemeinden, die Standorte für die Windenergie zu steuern. Darin können sie festlegen, wo die Windmühlen konzentriert werden sollen. In den anderen Gebieten dürfen keine Anlagen aufgestellt werden.

UNTER "VERSPARGELUNG" versteht man die Beeinträchtigung des Landschaftsbilds, gerade in Ostfriesland, durch planlos in die Landschaft gestellte Einzelanlagen und die Massierung von Windparks.

BEIM "REPOWERING", dem Ersetzen von alten gegen neue Anlagen, wollen die Kommunen Einzelanlagen in Windparks verlegen und die Windenergie insgesamt so steuern, dass die "Verspargelung" Ostfrieslands verringert wird. Ohne gültige Flächennutzungspläne ist das aber nicht möglich.

Anzeiger für Harlingerland 25.02.2004 (S. 1), Jeversches Wochenblatt 25.02.2004 (S. 1)
Kommunen wehren sich
Schulterschluss in Sachen Windenergie / Petition an den Deutschen Bundestag
"Die Windenergie muss für die Gemeinden steuerbar sein." Diese Überschrift steht über einer Petition, die gestern von mehr als 130 Kommunalvertretern unterzeichnet wurde.
WITTMUND / OST-FRIESLAND / HPH - Wittmunds Bürgermeister Karl-Heinz Krüger war überrascht: Die Stadt Wittmund hatte gemeinsam mit dem Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund gestern zu einem Erfahrungsaustausch zur "Aktuellen Entwicklung im Bereich Windkraft" eingeladen - die Resonanz war so groß, dass die Veranstaltung, die ursprünglich im Rathaus der Harlestadt stattfinden sollte, kurzerhand in die Stadthalle verlegt werden musste. Weit mehr als 130 Vertreter von Städten und Gemeinden aus dem gesamten nordwestdeutschen Raum kamen nach Wittmund.
Anhand der Entwicklung in Wittmund schilderte Krüger in seiner Eröffnungsrede die Probleme, die die Kommunen derzeit in ganz Niedersachsen beschäftigen: Die Windindustrie droht mit erheblichen Schadensersatzforderungen und greift bestehende Flächennutzungspläne an, um neue Anlagen durchzusetzen.
"Es geht nicht darum, die Nutzung der Windenergie zu verhindern", betonte der Landesgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Dr. Wulf Haak. Es gehe darum, dass sich die Räte der Kommunen mehr und mehr entrechtet fühlen würden, wenn es um die Entscheidung gehe, wo welche Windkraftanlagen aufgestellt werden sollten. "Wir stellen fest, dass die fast kalkulierbare Anfälligkeit von gemeindlichen Planungen zu einem Poker für die Kommunen wird."
Im Verlauf des gestrigen Vormittags verabschiedeten die Kommunalvertreter eine Petition an den Deutschen Bundestag. Die Kommunen fordern, im Rahmen der derzeitigen Novellierung des Baugesetzbuches den Gemeinden bei der Flächennutzungsplanung eine sogenannte Veränderungssperre einzuräumen, damit die Städte und Gemeinden genügend Zeit haben, ihre Planungen zu verändern oder aufzustellen. "Es geht nicht um eine Ver- oder Behinderung der Windenergie, sondern um die verträgliche Steuerung der Anlagen auf gemeindlicher Ebene", heißt es in der Petition.

Anzeiger für Harlingerland 25.02.2004 (S. 4) Jeversches Wochenblatt 25.02.2004 (S. 4)
Kommentar: Kommando
VON HANS-PETER HEIKENS
Gebt den Kindern das Kommando - diese Forderung von Herbert Grönemeyer können sich die Kommunen in Niedersachsen derzeit symbolisch zu eigen machen. Wenn es nämlich um die Windenergie geht, dann haben die Städte- und Gemeinderäte schon lange das Kommando über ihre Gebiete verloren. Mit massiven Schadensersatzforderungen werden die Volksvertreter von den Windkraft-Betreibern in die Knie gezwungen. Und das, was der Gesetzgeber 1996 erreichen wollte, nämlich ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der Windenergie und denen der Kommunen, ist aus den Fugen geraten. Damals wurde die alternative Energie privilegiert. Soll heißen: Jeder, der eine Windkraftanlage bauen wollte, konnte dieses tun sofern Abstände und Umweltvorschriften eingehalten wurden. Andererseits wurde den Gemeinden mit dem Flächennutzungsplan die Chance eingeräumt, einen Wildwuchs zu verhindern und Windparks festzulegen. Jetzt aber fechten die "Wind-Bauern" diese Pläne erfolgreich an und bekommen eine Anlage nach der anderen genehmigt. Sie entscheiden damit, wo was gebaut wird, und nicht mehr die Räte.
Das darf nicht sein. Gebt den Räten das Kommando mit der Forderung nach einer Nachbesserung des Baugesetzbuches darf der Städte- und Gemeindebund nicht Schiffbruch erleiden. Die Windanlagen-Betreiber handeln zwar nicht gesetzeswidrig. Es kann aber nicht angehen, dass wenige Antragsteller mit horrenden Schadensersatzforderungen Volksvertreter in die Knie zwingen. Man muss ja nur einen Schritt weiter denken: Was ist, wenn ein Rat hart bleibt und eine Kommune, beispielsweise die Stadt Wittmund, zur Zahlung von 20 Millionen Euro "verdonnert" wird? Wer zahlt am Ende für das Wirtschaftliche Interesse von ein paar Anlagen-Betreiber? Die Steuerzahler.